Nachbeben

Ein Erdbeben nennen wir das Beben unserer Erde in einem ihrer Teile. Seit wir Menschen Erdbeben erleben, erleiden, beobachten und messen, bebte bisher niemals unsere ganze Mutter Erde. Am Dienstag letzter Woche um 9.50 Uhr begann mit dem Zusammensacken der Türme des World Trade Center und der Gebäudeteile des Pentagon ein Erdbeben, das unsere ganze Erde erschütterte. Es ist das erste Erdbeben, das von uns nicht gemessen werden konnte, weil es keine messenden und beobachtenden Menschen gab. Sondern nur Miterlebende, Mitleidende, Miterschütterte. Selbst denjenigen kleinen Gruppen von johlenden Kindern und der sie feindbildprägenden, selbst manipulierten Eltern in palästinensischen Gruppen, welche Begeisterung und Freude über das globale Erdbeben nach 9.50 Uhr am 11. September zeigten, verging das Johlen. Weil es um sie herum auf der Erde still wurde. Mit den Terroropfern starb etwas in uns allen: Sicherheit, Bequemlichkeit, Faulheit, die Spaßgesellschaft, die seit einem halben Jahrhundert Frieden eben diesen ewig sieht. Die Zwillingstürme des World Trade Centers und das Pentagon, überhaupt diese Bilder dieser Orte dieses Landes Nordamerika sind nicht nur Türme oder Gebäude. Es sind Symbole. Und wenn Symbole zerstört werden, geht das tiefer als die Zerstörung von Menschen und Materie. Bei der Zerstörung von Symbolen wird dasjenige mitzerstört, wofür das Symbol steht. Und das ist immer weit über das Symbol hinausweisend" (Paul Tillich), als die Materie des Symbols. Ein Ehering ist für Juweliere Edelmetall und für seine Träger weit mehr. Heute, Tage später, regen wir uns wieder mit unserer äußeren Normalität, mit unseren kleinen und großen Vergnügungen und Lüstchen (Friedrich Nietzsche). unseren kleinen und großen Problemen - und das Nachbeben des Erdbebens bebt durch alles hindurch. Auch in und um Uelzen und in uns selbst gab es unmögliche Menschen". Da wünscht jemand jemandem am Morgen danach einen fröhlichen guten Morgen" und wurde schweigend oder zusätzlich strafend angeblickt. Da kommen Schüler aus der Schule und erzählen ihren Eltern lachend „einige Lehrer haben richtig geheult". Da sitzt ein Mann vor der Glotze, sieht dreimal dieselben Bilder in verschiedenen Programmen und flucht, dass es keinen richtigen Film“ gibt. Und in Hamburg treten vier Studenten mit schwarzen Haaren, Bart und einem arabischen Pass aus einem Uni-Institut und treten sofort wieder zurück in den Flur. Draußen johlt eine größere Gruppe deutscher Mitbürger, dankbar für den Aggressionskanal, den sie im Lynchen der Vier hinter der Tür wittern. Unmögliche Menschen"? Unsere Angst hat viele Gesichter und sucht ebenso viele Kanäle. Friedrich von Bodelschwingh wusste den Hintergrund unmöglicher Menschen, als er sagte: „Wenn ich nicht Christ wäre, würde ich die Menschen verachten." Heute wünschen wir sie uns wieder, die guten Morgen", die „fröhlichen Morgen", die guten Tage“ und „schönen Feierabende". Aber wir wünschen uns diese Wünsche mit jener Hoffnung darauf, dass es auch wirklich gut wirken möge, das Guten Morgen", schönen Tag noch" und viel Spaß dabei!".

Es ist eine neue Portion Hoffnungswunsch darin, die nur durch die Bewusstheit in uns möglich ist, was wir da eigentlich wünschen. Und diese Portion Bewusstheit in uns ist dies Nachbeben in uns. Folge des ganzen Erbebens am 11. Sept. Friede ist, sozial gesehen, die Fähigkeit der Menschen, miteinander zu leben(...) Insofern ist Friede stets der Leib der Wahrheit" (Carl F v. Weizsäcker). Dieser Leib ist gegenwärtig schwer krank und unser kollektives Schleudertrauma wirkt nicht im Gehirn, sondern in unserer Seele. Guten Tag!

18. September 2001